Stand: 31. August 2017
Entwicklungsstufe: S1
Online seit: 07. November 2017
Gültig bis: 30. August 2022
Verlängert am: 16. Juli 2019
Zuletzt bearbeitet am: 29. Juli 2019
Federführend:
PD Dr. Bettina Pfausler, Innsbruck
B.Pfausler@i-med.ac.at
Zitierhinweis
Pfausler B. et al. S1-Leitlinie Botulismus. 2017. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie, Hrsg. Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am TT.MM.JJJJ)Addendum vom 29. Juli 2019
Seit 2019 ist in Europa nur mehr das heptavalente Antitoxin gegen die Serotypen A-G erhältlich (BAT®). Es gibt Ampullen mit einer Größe von 20 und 50ml und mit unterschiedlichen Füllvolumina. Jede Ampulle enthält jedoch – unabhängig von Größe und Füllmenge – eine Mindestkonzentration der Antitoxine. Nach Verabreichung einer Testdosis in der Verdünnung 1:10 erfolgt eine kontinuierliche i.V.-Gabe (Fachinformation beachten!). Bei Verdacht auf eine protrahierte Toxin-Aufnahme aus dem Darm kann das Antitoxin auch bis zu 48 Stunden verabreicht werden.
Bitte beachten Sie die entsprechenden Anpassungen unter „Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick“ (PDF S.4) und unter Therapie das Kapitel „Spezifische Maßnahmen“ (PDF S. 14) (jeweils fett gedruckt).
Was gibt es Neues?
- Eine Überwachung/Behandlung auf einer Intensivstation ist erforderlich.
- Magnesiumgabe ist bei Botulismus kontraindiziert.
- Der Nachweis von Botulinum-Neurotoxin (BoNT) erfolgt mittels Real-Time-PCR in Stuhlproben, Nahrungsmitteln, Speisebrei und Wundabstrich.
- Das Syndrom eines chronischen Botulismus gibt es nicht beim Menschen.
- Zu den Serotypen A–F wurde nun auch ein Serotyp H identifiziert.
Die wichtigsten Empfehlungen auf einen Blick
- Bei Auftreten von Symptomen ist eine Überwachung/Behandlung auf einer Intensivstation erforderlich.
- Personen mit Verdacht auf eine BoNT-Intoxikation, jedoch fehlenden klinischen Symptomen müssen über Frühsymptome wie Mundtrockenheit und/oder Sehstörungen aufgeklärt werden.
- Der Toxinnachweis erfolgt in Nahrungsmitteln, Fäzes und Wunden mittels Real-Time-PCR oder Massen-Spektrometrie. Informationen über notwendiges Probematerial und Versand können über die Gesellschaft für Klinische Toxikologie (GfKT, https://www.klinitox.de/) eingeholt werden.
- Ein Wundbotulismus erfordert ein Wunddébridement und eine antibiotische Therapie mit Penicillin i.v.
- Eine Magenspülung ist nicht indiziert. Eine Entfernung des Magenbreis kann unter strenger Indikationsstellung nur endoskopisch erfolgen.
- Es ist nicht belegt, dass Einläufe und die Verwendung von Laxanzien den Verlauf der Erkrankung positiv beeinflussen. Eine properistaltische Behandlung kann bei anhaltender toxinbedingter Darmatonie jedoch erforderlich sein.
- Die symptomatische Therapie mit Cholinesterase-Hemmern verlängert die Verweildauer des noch vorhandenen wirksamen Acetylcholin im synaptischen Spalt.
- Eine Magnesiumgabe ist kontraindiziert.
- Anpassung durch Addendum vom 29. Juli 2019:
Seit 2019 gibt es nur mehr das heptavalente equine Antitoxin gegen die Serotypen A-G; eine Antitoxingabe kann dabei bis zu 48 Stunden überlegt werden, sofern der Verdacht einer protrahierten Toxinaufnahme aus dem Darm besteht. - Das humane Hyper-Immunglobulin gegen BoNT A und B ist nur in den USA und bei Kindern im ersten Lebensjahr zugelassen.
Definition und Klassifikation
Begriffsdefinition
Botulismus wird durch Neurotoxine hervorgerufen, die von dem anaeroben sporenbildenden Bakterium Clostridium botulinum produziert werden. Botulinum-Toxine hemmen die Ausschüttung von Acetylcholin an den motorischen Endplatten, aber auch am cholinergen autonomen Nervensystem. Die Hauptsymptomatik des Botulismus ist charakterisiert durch eine schlaffe symmetrische, meist absteigende Tetraparese mit „bulbärem“ Beginn (4 Ds: Diplopie, Dysarthrie, Dysphagie, Dysphonie) und Beteiligung des autonomen Nervensystems (anticholinerge Effekte wie Mydriasis, Mundtrockenheit).
Klassifikation
Botulinum-Toxine können auf verschiedenen Wegen in den Körper gelangen und Botulismus verursachen: durch mit BoNT verunreinigte Nahrungsmittel, heute meist Konserven und Geräuchertes (Nahrungsmittelbotulismus), durch eine Wundbesiedelung mit Clostridium botulinum (Wundbotulismus) oder durch eine Darmbesiedelung mit Clostridium botulinum, das in der Regel nur bei Neugeborenen vorkommt (Neugeborenenbotulismus), aber in Einzelfällen auch bei Erwachsenen (intestinaler Botulismus bei Erwachsenen) beschrieben wurde.
Das Krankheitsbild des chronischen Botulismus bei Menschen, die in der Landwirtschaft mit engem Rinder-/Tierkontakt konfrontiert sind, konnte nicht bestätigt werden (Dorner, 2014).
Epidemiologie
Botulismus kommt weltweit vor. Er tritt in der Regel in kleinen Epidemien (drei bis fünf Fälle) oder in Einzelfällen auf. Er ist nicht übertragbar, Epidemien beruhen auf dem Genuss des gleichen kontaminierten Lebensmittels durch mehrere Personen. Lokale Ausbrüche durch Wundbotulismus wurden zuletzt vermehrt bei Heroinabhängigen beobachtet (seit 2014: Norwegen vier, Schottland 15, Deutschland vier Fälle).
Verdacht, Erkrankung und Tod sind in Deutschland nach § 6(1) IfsG meldepflichtig, ebenso in Österreich, wo es seit 2008 eine nationale Referenzzentrale für Botulismus gibt. In der Schweiz ist nur der Nahrungsmittelbotulismus meldepflichtig, nicht jedoch der Wund- und Säuglingsbotulismus.
Inzidenzen
- In Deutschland erkranken zwischen zehn und 20 Personen an BoNT pro Jahr (2015: zwei Nahrungsmittel-, ein Wundbotulismus; 2016: insgesamt 15 Fälle; Robert Koch-Institut).
- In Österreich sind seit dem Jahr 2000 insgesamt 23 Botulismusfälle gemeldet, 2013 wurde erstmals ein Säuglingsbotulismus diagnostiziert.
- In der Schweiz werden pro Jahr ein bis zwei Fälle von Nahrungsmittelbotulismus gemeldet (Quelle: Schweiz. Bundesamt für Gesundheit 2017). Bemerkenswerterweise verendeten aber 2016 in der Ostschweiz 63 Kühe aus einer Herde von 160 Tieren an Botulismus, und unabhängig davon 200 von 700 Tieren einer Schafherde, nachdem die Futtermittel offenbar durch ins Silo gelangte Tierkadaver kontaminiert wurden.
Während in unseren Breiten der Nahrungsmittelbotulismus vorherrschend ist, ist in den USA der Säuglingsbotulismus mit 100–110 Fällen/Jahr (70% der Fälle) am häufigsten, gefolgt von Nahrungsmittel- (25%) und Wundbotulismus (5%).
BoNT kann als Aerosol über die Lungen absorbiert werden und zum Botulismus führen, was nur für den Einsatz als biologische Waffe (Bioterrorismus) von Interesse ist (Adalja, 2015).
Pathophysiologie
Clostridien sind anaerobe, grampositive, sporenbildende Bakterien, die weltweit in der Erde vorkommen. Clostridium-botulinum-Sporen sind hitzeresistent und überleben alle Konservierungsmethoden, die üblicherweise nicht sporenbildende Organismen abtöten. Unter den anaeroben Bedingungen der konservierten Nahrungsmittel entwickeln sich die Sporen. Die Clostridien vermehren sich und produzieren letztlich das potente Neurotoxin, das im Gegensatz zu den Sporen hitzelabil ist. Die Vermehrung der Clostridien wird durch ein relativ gering saures Milieu (pH > 4,6) erleichtert, vor allem wenn große Teile der konservierten Nahrungsmittel solide sind.
Clostridium botulinum ist eine einzelne Bakterienspezies mit zumindest drei genetisch unterscheidbaren Subspezies, die acht biochemisch verschiedene Serotypen (A–H) von BoNT produzieren (Dover, 2014). Beim Menschen sind vor allem die Clostridium-Spezies von Bedeutung, die die Serotypen A, B und E produzieren. In Deutschland sind typischerweise BoNT-A und -E für die menschlichen Botulismusfälle verantwortlich, bei Wundbotulismus wurde auch BoNT des Serotyps B isoliert. Die beiden seltenen Clostridien-Spezies Clostridium baratii (BoNT-F) und Clostridium butyricum (BoNT-E) wurden ebenfalls als Ursache des Botulismus beim Menschen identifiziert.
Das BoNT wird, ausgehend vom Magen-Darm-Trakt bzw. von den anaeroben Anteilen im Bereich der Verletzung, mit dem Blutstrom verteilt und nach Bindung an einen spezifischen Rezeptor im Bereich der präsynaptischen Terminalen peripherer cholinerger Neurone endoneuronal aufgenommen. Durch eine Konfigurationsänderung im sauren Milieu des Lysosoms wird BoNT in die Nervenendigung freigesetzt und wirkt hier als Protease. BoNT inaktiviert spezifisch und je nach Serotyp an unterschiedlichen Stellen den Proteinkomplex SNARE, der die Fusion der Transmittervesikel mit der präsynaptischen Membran bewirkt, sodass die Acetylcholin-Ausschüttung blockiert wird (Pantano, 2014). Dadurch erklären sich die Hauptsymptome des Botulismus wie die Muskelschwäche und die anticholinergen Effekte.
Der Effekt des Toxins wird zunächst durch Neubildung cholinerger Synapsen („sprouting“) überwunden (Dauer mindestens zwei bis drei Wochen). Im weiteren Verlauf wird durch Neusynthese des SNARE-Komplexes die Funktion der originären Synapsen wiederhergestellt (Dauer ca. acht bis 16 Wochen), und die „sprouts“ werden retrahiert.
Botulinum-Toxin ist das potenteste natürliche Gift. Etwa 100ng sind bei oraler Einnahme für den Menschen tödlich. Dies bedeutet, dass nur ein Gramm BoNT für zehn Millionen Menschen letal wäre, das entspricht der etwa 100.000-fachen Toxizität des Nervengiftes Sarin. 2010 konnte in Österreich in Sojamilchprodukten Clostridium sporogenes nachgewiesen werden. Dieser Erreger ist zwar biochemisch identisch mit Clostridium botulinum, es fehlt ihm aber die Fähigkeit, BoNT zu bilden.
Klinik und Leitsymptome
Nahrungsmittelbotulismus
Nahrungsmittelbotulismus ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz die bei weitem häufigste Form, meist verursacht durch BoNT der Serotypen A und E.
Die Erkrankung entsteht durch Ingestion eines toxinhaltigen Nahrungsmittels. Im Intestinaltrakt wird das Toxin resorbiert. Meist handelt es sich um hausgemachte Fleisch- und Gemüsekonserven, in sehr seltenen Fällen waren kommerzielle Produkte, nämlich konservierte, relativ wenig saure (pH > 4,6) Nahrungsmittel wie Gemüse, Fleisch, Fisch, Chilischoten, in Öl eingelegter Knoblauch, Käsesaucen, eingelegte Zwiebeln sowie Fisch und andere Meerestiere die Intoxikationsquelle.
Die Inkubationszeit ist kurz (meist 18–36 Stunden; Minimum acht Stunden, Maximum acht Tage) und steht in reziprokem Verhältnis zur Toxinmenge.
Wundbotulismus
Wundbotulismus ist deutlich seltener als Nahrungsmittelbotulismus und wird wie Tetanus durch die Besiedelung von Wunden (inklusive Nadelstichverletzungen bei I.v.-Drogenabhängigen) mit Clostridium botulinum verursacht, die lokal Toxin (im aktuellen in Deutschland gemeldeten Fall Serotyp B) produzieren, das dann zu einer systemischen Intoxikation führt. Die Inkubationszeit beim Wundbotulismus beträgt typischerweise sieben Tage (vier bis 14 Tage).
Säuglingsbotulismus
Der Säuglingsbotulismus ist weltweit die häufigste Form und tritt meist um den zweiten Lebensmonat auf. Hierbei handelt es sich um eine enterale Kolonisierung mit Clostridium botulinum nach oraler Aufnahme der Sporen. Eine typische Quelle der Sporen ist Honig, der daher grundsätzlich nicht Kindern unter zwei Jahren gegeben werden sollte. In vielen Fällen lässt sich jedoch die Herkunft der Sporen nicht ermitteln. Die Klinik ist meist relativ blande, gekennzeichnet durch Ptose, Adynamie, muskuläre Hypotonie und Trinkschwäche.
Intestinaler Botulismus bei Erwachsenen
Gelegentlich wird noch eine vierte Form, nämlich die des intestinalen Botulismus bei Erwachsenen, unterschieden. Diese sehr seltene Form tritt nur nach vorausgehender breitbandantibiotischer Therapie mit Zerstörung der natürlichen gastrointestinalen Flora auf (eventuell bei vorbestehender gastrointestinaler Erkrankung, abdominaler Chirurgie oder Ähnlichem).
Symptomatik
Alle drei (vier) Formen des Botulismus zeigen (mit Ausnahme der unterschiedlichen Inkubationszeiten) eine ähnliche neurologische und systemische Symptomatik. Der Nahrungsmittelbotulismus beginnt typischerweise mit gastrointestinalen Symptomen (Übelkeit, Erbrechen, abdominellen Krämpfen, Diarrhö), gleichzeitig oder im Gefolge treten okulomotorische und bulbäre Paresen (Ptose, Doppelbilder, Dysarthrie, Dysphagie) sowie autonome Symptome (Mydriasis, Mundtrockenheit) auf. In unterschiedlichem Ausmaß kommt es dann zu einer absteigenden Schwäche der Extremitäten unter Miteinbeziehung der Atemhilfsmuskulatur. Die Symptome sind typischerweise rein motorisch bzw. das autonome Nervensystem betreffend. Sensible Ausfälle kommen nicht vor, Parästhesien werden aber von einigen Patienten angegeben. Bei bis zu 10% der Patienten treten Vigilanzstörungen auf, ob als Folge einer Hyperkapnie bei Hypoventilation oder aber durch eine zentrale anticholinerge Toxinwirkung ist ungeklärt.
Diagnostik
Botulismus wird häufig (zu) spät diagnostiziert, insbesondere bei sogenannten Indexpatienten (erster Patient eines Botulismusausbruchs bzw. einziger Botulismuspatient).
Die Diagnose ist in erster Linie anamnestisch (Verzehr von eingemachten, konservierten Produkten bzw. Auftreten einer ähnlichen Symptomatik in der Familie oder Umgebung) und klinisch (s.o.) zu stellen.
Bei Verdacht sollte unverzüglich versucht werden, das Botulinum-Toxin aus Stuhl und Serum (eventuell auch aus Mageninhalt bzw. asservierten Nahrungsmitteln) mittels Maus-Inokulationstest (Bio-Assay) nachzuweisen, vor allem, um den Toxintyp zu differenzieren. Die Ausbeute ist aber gering; BoNT wird im Serum oder im Stuhl von Patienten mit Nahrungsmittelbotulismus in weniger als 50% der Fälle nachgewiesen. Das Ergebnis der Tests sollte nicht abgewartet werden, bei hinreichendem Verdacht ist die Therapie sofort einzuleiten, da insbesondere die Gabe von Antitoxin zeitlimitiert ist (s.u.).
Der In-vitro-Nachweis von Botulinum-Toxin mittels ELISA, PCR, Real-Time-PCR oder Massen-Spektrometrie (Endopep-MS) hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert und ermöglicht eine Bestätigung der Diagnose in wenigen Stunden (Dorner, 2013; Rosen, 2015).
Beim Wundbotulismus muss aus dem Wundmaterial eine anaerobe Kultur angelegt werden.
Tabelle 2 listet weitere zusatzdiagnostische Tests auf, die auch zur differenzialdiagnostischen Einordnung dienen.
Differenzialdiagnose
Iatrogener Botulismus
BoNT Typ A und B werden zunehmend häufig zur Therapie der Dystonie eingesetzt. Ins-besondere bei pharynxnaher Anwendung (Antecollis) oder hochdosierter Gabe (z.B. Be-handlung der Spastik) kann es durch lokale Diffusion oder ungewollten systemischen Übertritt innerhalb von zwei bis 14 Tagen zum Auftreten eines iatrogenen Botulismus kommen.
Weitere wesentliche Differenzialdiagnosen zeigt Tabelle 3.
Therapie
Management des individuellen Patienten
Die Wirkung von BoNT kann bis zu zwölf Wochen anhalten, die komplette Erholung von den Paresen (mit Atrophien!) kann in schweren Fällen Monate dauern. Daher ist in vielen Fällen eine langwierige symptomatische Behandlung erforderlich. Eine häufig subjektiv empfundene Beeinträchtigung des Befindens wird oft noch Jahre nach einem Botulismus berichtet (Gottlieb et al., 2007). Botulismus hinterlässt jedoch in der Regel keine bleibenden Schäden. Das Management beschränkt sich im Wesentlichen auf supportive Maßnahmen.
Supportive Maßnahmen
- Bei klinischen Symptomen ist eine Überwachung/Behandlung auf einer Intensivstation erforderlich: Gründe dafür sind die bulbäre Symptomatik mit Gefahr der Aspiration und Atemlähmung sowie die autonomen Störungen. Die Intensivmedizin hat in den letzten 40 Jahren substanziell zur Reduktion der Botulismussterblichkeit beigetragen. Patienten mit Botulismusverdacht müssen über Frühsymptome wie Mundtrockenheit und Sehstörungen aufgeklärt werden. Eine intensivmedizinische Überwachung bei fehlenden Symptomen ist nicht erforderlich.
- Wunddébridement (nur bei Wundbotulismus) und Antibiose: Bei Wundbotulismus muss ein ausgiebiges chirurgisches Débridement durchgeführt werden und eine antibiotische Therapie mit Penicillin G (3x5 bis 3x10 Mega I.E.) erfolgen.
- Magenspülung: Nach Sicherung der Atmung und der Atemwege wird bei Patienten mit sehr kurzer Inkubationszeit (Stunden) eine endoskopisch gestützte Magenspülung durchgeführt, um eventuell noch kontaminierte Nahrungsreste zu entfernen.
- Einläufe/properistaltische Behandlung: Obwohl immer wieder diskutiert, konnte nicht schlüssig nachgewiesen werden, dass Einläufe oder properistaltisch wirksame Substanzen den Verlauf beeinflussen. Bei anhaltender toxinbedingter Darmatonie kann jedoch eine properistaltische Therapie mit motilitätsfördernden Substanzen erforderlich sein (z.B. Metoclopramid 30mg/d oder Domperidon 40mg/d).
- Cholinesterase-Hemmer: Eine symptomatische Therapie mit Cholinesterase-Hemmern (z.B. Neostigmin 2–6mg/24h i.v.) erscheint sinnvoll, ihre Auswirkung auf Intensivpflichtigkeit, Morbidität und Mortalität ist jedoch noch nie Gegenstand einer prospektiven Studie gewesen. Die Behandlung kann die intestinalen Krämpfe und Diarrhöen verstärken.
- Die Magnesiumgabe ist kontraindiziert! Magnesium muss aufgrund der theoretischen Möglichkeit, dass hohe Magnesiumspiegel die Wirkung von Botulinum-Toxin erhöhen, vermieden werden.
Spezifische Maßnahmen
(Anpassung durch Addendum vom 29. Juli 2019)
Botulinum-Antitoxin vom Pferd kann bis zu 48 Stunden verabreicht werden, sofern der Verdacht einer protrahierten Toxinaufnahme aus dem Darm besteht. Die Verabreichung von Botulinum-Antitoxin ist die einzige spezifische pharmakologische Maßnahme. Die intravenös verabreichten Antitoxine neutralisieren ausschließlich noch nicht an Nervenendigungen gebundene Toxinmoleküle und sind daher nur in den ersten 48 Stunden nach Einnahme des toxinhaltigen Nahrungsmittels sowie bei Wundbotulismus zu empfehlen (Chang & Ganguly, 2003). Seit 2019 ist in Europa nur mehr das heptavalente Antitoxin gegen die Serotypen A-G erhältlich (BAT®). Es gibt Ampullen mit einer Größe von 20ml und 50ml und mit unterschiedlichen Füllvolumina. Jede Ampulle enthält jedoch – unabhängig von Größe und Füllmenge – eine Mindestkonzentartion der Antitoxine. Nach Verabreichung einer Testdosis in der Verdünnung 1:10 erfolgt eine kontinuierliche i.V.-Gabe (Fachinformation beachten!). Die Antitoxine haben eine Halbwertszeit von fünf bis acht Tagen.
▶ Cave
Hypersensitivitätsreaktionen bis hin zur Anaphylaxie wurden bei bis zu 9% der Patienten berichtet! Eine vorherige Intrakutantestung wird empfohlen.
Ein Botulinum-Hyper-Immunglobulin ist nur in den USA erhältlich, wird beim kindlichen (Säuglings-)Botulismus verabreicht und beeinflusst die Dauer der Beatmungspflichtigkeit, des Krankenhausaufenthalts und des Wiederbeginns der oralen Ernährung günstig (Chalk et al., 2011).
Management eines Botulismusausbruchs
Bei einem Botulismusausbruch müssen so rasch wie möglich die Gesundheitsbehörden verständigt werden, um die Quelle der Kontamination zu lokalisieren und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.
Bei Exposition einer großen Zahl von Menschen gegenüber Botulinum-Toxin (via Aerosol als biologische Waffen!) ist es entscheidend, rechtzeitig ausreichende intensivmedizinische Kapazitäten inklusive Beatmungsplätze zur Verfügung zu stellen. In einem Experiment der US-Armee mit Toxinexposition (via Aerosol) gegenüber Rhesusaffen war der entscheidende Faktor die rechtzeitige Verfügbarkeit einer mechanischen Ventilation, erst in zweiter Linie die frühzeitige Verabreichung von Antitoxin.
Bis 2011 war über das Center for Disease Control (CDC, Atlanta, USA) eine pentavalente Botulinum-Toxoid-Vakzine für Hochrisikopersonen in Anwendung. Wegen der zunehmend geringen immunogenen Wirkung wurde der Impfstoff zurückgenommen. Ein rekombinanter Botulinumimpfstoff gegen Serotyp A und B ist in einer Phase-II-Studie.
Im Falle eines epidemisch auftretenden Botulismus müssen alle potenziellen, asymptomatischen Kontaktpersonen sehr eng überwacht werden. Eine prophylaktische Gabe von Antitoxin ist nicht indiziert, sollte jedoch beim Auftreten der ersten Symptome nach stationärer Aufnahme unverzüglich erfolgen.
Versorgungskoordination
Die Aufnahme auf einer neurologischen Intensivstation ist unumgänglich.
Redaktionskomitee
Dr. K. R. Kessler, NeuroCentrum am Kreiskrankenhaus Grevenbroich
Prof. Dr. U. Meyding-Lamadé, Krankenhaus Nordwest, Frankfurt am Main
Für die schweizerische Fachgesellschaft:
Prof. Dr. K. M. Rösler, Inselspital Bern
Für die österreichische Fachgesellschaft:
PD Dr. B. Pfausler, Neurologische Universitätsklinik Innsbruck
Federführend:
PD Dr. Bettina Pfausler, Neurologische Universitätsklinik,
Anichstraße 35, A-6020 Innsbruck, Österreich, Fax: +43 512 504 24243
E-Mail: B.Pfausler@i-med.ac.at
Entwicklungsstufe der Leitlinie: S1
Erklärung und Prüfung von Interessen
Alle Mitwirkenden der Leitlinie haben ihre Interessenerklärungen mit dem Formular der AWMF rechtzeitig und vollständig ausgefüllt beim Koordinator eingereicht (AWMF-Formular zur Erklärung von Interessen im Rahmen von Leitlinienvorhaben Betaversion für Praxistest, Stand 29.06.2016).
Alle Interessenerklärungen wurden geprüft und durch einen anonym arbeitenden, unabhängigen und sachkundigen Interessenkonfliktbeauftragten der DGN auf potenzielle thematisch relevante Interessenkonflikte begutachtet. Da die von den Autoren dargelegten Interessen keine thematischen Bezüge zur Leitlinie aufweisen, liegen keine die Objektivität der Beiträge einschränkenden Interessenkonflikte vor.
Daher wurde auch die 50%-Regel der DGN, d.h., mindestens die Hälfte der Mitwirkenden dürfen keine oder nur geringe themenbezogene potenzielle Interessenkonflikte besitzen, eingehalten.
Die dargelegten Interessen der beteiligten Autoren sowie deren Bewertung sind aus Gründen der Transparenz in der tabellarischen Zusammenfassung (PDF zum Download) aufgeführt.
Finanzierung der Leitlinie
Entstandene Kosten wurden durch die Autoren übernommen.
Methodik der Leitlinienentwicklung
Zusammensetzung der Leitliniengruppe
Siehe Redaktionskommittee. Es wurden keine weiteren Gruppen beteiligt.
Recherche und Auswahl der wissenschaftlichen Belege
Für Botulismus gibt es keine sonstige LL. Daher wurde die 2012er-DGN-LL durch eine Literatur-Recherche (durchgeführt von Bettina Pfausler) in Medline 2010–2016 mit den Schlüsselwörtern Botulismus, Clostridium botulinum, therapy, prevention, intensive care, critical care ergänzt und einem Update zugeführt.
Verfahren zur Konsensfindung
Die Konsensusbildung unter den Autoren dieses Kapitels erfolgte mittels eines modifizierten Delphi-Verfahrens. Diese Leitlinie ist von der Kommission Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) sowie der beteiligten Fachgesellschaften verabschiedet worden.
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